Rede zur Eröffnung der Samoa 1904-Ausstellung
Museum Bochum | Kemnade, 18 April 2004

Dr. SylviaOhnemus, Überseemuseum Bremen,


Your Excellency
Liebe Familie Niggemann und weitere Nachkommen von Otto Tetens
Sehr geehrter Herr Dr. Golinski und Team des Museums
Sehr verehrte Damen und Herren
Es ist mir eine grosse Ehre und Freude, dass ich hier zu Ihnen sprechen darf und ich möchte mich herzlich für die Einladung bedanken. Ich bin Ethnologin, zuständig am Überseemuseum Bremen für die völkerkundlichen Sammlungen aus Ozeanien.
"Ozeanien" ist die Bezeichnung für die Grossregion zwischen dem amerikanischen und dem asiatischen Kontinent. Auch die Bezeichnungen Südsee oder Südpazifik werden dafür verwendet. Es ist ein riesiges Gebiet, welches mit seiner Gesamtfläche rund ein Drittel der Erdoberfläche ausmacht. Es besteht aus weiten Meeresflächen, verschiedenen Landmassen und zahlreichen Inseln. Man unterteilt Ozeanien in Polynesien, Mikronesien, Melanesien und Australien. Mit diesen Gebieten verbinden wir vor allem Traumvorstellungen, die eher mit uns zu tun haben, als mit der Realität vor Ort. Von den Menschen, die auf diesen Inseln leben, wissen wir recht wenig. In unserer Presse sind nur selten Informationen zum aktuellen Tagesgeschehen zu finden. Vor ca. 60 000 Jahren begann die Einwanderung nach Ozeanien von Asien her und verschiedene Kulturen stiessen in den folgenden Jahrhunderten in diese Inselwelt vor.
Ich möchte jetzt aber nicht weiter auf die Geschichte und den Grossraum Ozeanien eingehen. Vielmehr möchte ich Ihnen kurz schildern, welche Bedeutung wir Museumsleute den Objekten in unseren Sammlungen beimessen und warum wir in Begeisterung geraten können, wenn alte Fotosammlungen – wie hier von Otto Tetens – auftauchen.
Ethnologen beschäftigen sich mit menschlichen Gesellschaften, meist Gesellschaften, die weiter weg von uns leben. Die Wissenschaftler versuchen zu lernen und zu verstehen wie andere Kulturen leben; zum Beispiel, wie sie ihr Zusammenleben organisieren, wie sie in ihrer Umwelt zurechtkommen, wie sie sie ordnen und deuten, welche Dinge und Richtlinien ihnen wichtig sind oder wie sie versuchen Konflikte zu lösen.
Zu diesem Zweck halten sich Ethnologen oft längere Zeit in anderen Regionen der Welt auf, versuchen "mitzuleben" und zu verstehen. In der eigenen Kultur sind sie bestrebt das Erlernte, das Gesehene weiterzuvermitteln, die Blicke zu öffnen auf die Vielfältigkeit menschlicher Gesellschaften und auch den Respekt und die Toleranz gegenüber anderen Formen zu fördern.
Viele Aspekte einer Kultur drücken sich in materiellen Formen aus. So lässt sich zum Beispiel aus der Art und Weise wie sich jemand kleidet schon einiges über diesen Menschen und seine Kultur herauslesen. Das ist in Bochum nicht anders als auf Samoa.
Aus der Kultur heraus entwickeln sich bestimmte Wertvorstellungen, die auch auf Objekte übertragen werden. Gegenstände, die diesen Masstäben entsprechen erhalten Eigenschaften, die weit über das rein materielle hinausgehen; sie sind "richtig", "stark", "wertvoll", mit Prestige und Status verbunden. Dies funktioniert aber nur, wenn sie in ihrem kulturellen Umfeld verbleiben und von den Angehörigen dieser Kultur entschlüsselt werden können.
Gegenstände können sensible Anzeiger einer Kultur sein und die Beschäftigung mit ihnen ist eine Möglichkeit sich fremden Kulturen zu nähern.
Nehmen wir zwei Gegenstände aus Samoa. Sie wurden von Otto Tetens während seines Aufenthaltes auf Samoa erworben und 1906/07 an das Überseemuseum Bremen verkauft. Seither lagern sie in unterschiedlichen Magazinen des Museums. Das eine ist eine geflochtene Matte aus Pandanusblättern und das andere eine Holzschale auf mehreren Beinen. Auf den ersten Blick - einem europäischen – scheinen sie nichts Aussergewöhnliches zu sein. Die Matte ist vermutlich etwas zu fein geflochten um eine Bodenmatte zu sein – könnte als Decke gedient haben. Die Holzschale hat eine ansprechende Form und scheint – nach den Spuren im Innern zu folgern - als Gefäß für etwas verwendet worden zu sein.
In der samoanischen Kultur haben solche Matten und Schalen einen hohen Stellenwert. Sie werden mit zahlreichen gesellschaftlichen Aspekten in Verbindung gebracht, die weit über ihre mögliche Funktion als Decke oder Gefäß gehen.
Fein geflochtene Matten aus Pandanusblattstreifen sind das Werk von Frauen. Viele Stunden, Tage, Wochen - ja Monate werden für die Herstellung benötigt. Sie werden bei verschiedenen Festen und rituellen Anlässen zeremoniell präsentiert und getauscht. Sie sind mit hohem Ansehen und Wert verbunden. Einzelne Matten können eigene Namen und damit auch eine eigene Geschichte haben. Verwandtschaftsbeziehungen sind miteingeflochten. Rechte/Ansprüche von Familien können mit solchen Matten verbunden sein.
Die Schale steht im Zentrum der Kawazeremonie. In ihr wird der Kawatrank aus der Wurzel des Piper methysticum zubereitet. Die Gäste einer Kawazeremonie sitzen in einer genauen Sitzanordnung (gemäss ihrem Rang) um die Schale herum. Die Zubereitung und das anschliessende Verteilen des Kawatranks erfolgt nach genauen Regeln. Die Sozialordnung der Gesellschaft und auch ihre Werte werden in dieser Zeremonie sehr klar ausgedrückt.
Beide Objekte haben also eine sehr zentrale Rolle in der Gesellschaft Samoas, und verschiedene Aspekte des Zusammenlebens können anhand dieser Gegenstände erklärt werden.
Materielle Kultur ist aber auch immer Einflüssen ausgesetzt (war es früher und wird es immer sein). Was wir als "traditionell" bezeichnen, muss nicht immer so gewesen sein, sondern ist vielleicht einfach nur die älteste bekannte Form. Gegenstände sind für eine bestimmte Zeit typisch. Das ist uns aus unserer eigenen Kultur vertraut - nehmen Sie als Beispiel unsere Kleidung – unsere Modegeschichte.
Wenn es sich um Kulturen handelt, die keine niedergeschriebene Geschichte haben, so wird die Einordnung und Deutung schwieriger. Die meisten Gesellschaften Ozeaniens hatten orale Traditionen. Das heisst das ganze Wissen um ihre Geschichte, ihre Gesellschaft, ihre Normen und Gesetze wurden mündlich weitergegeben. Dies erfolgte in den betreffenden Sozialorganisationen zum Beispiel nach Alter-, Rang- oder Verwandtschaftseinteilungen. In vielen Kulturen gab es darin einen Bruch, ausgelöst durch Kontakt mit westlichen Schriftkulturen. Alte Traditionen wurden verdrängt, Missionen bekämpften traditionelle Glaubens- und Wertvorstellungen, neue Sozialorganisationen wurden eingeführt. Mit dem Sterben der alten Generationen verschwinden oft auch Teile des traditionellen Wissens, das eigentlich hätte weitergegeben werden sollen. Das Wissen ist zum Teil nur noch bruchstückhaft oder gar nicht mehr vorhanden – oder vielleicht noch eingebettet in alten Gegenständen.
Kleine Hilfen bei einer Rekonstruktion von altem Wissen können Dokumente wie Objekte und Fotos sein. Objekte, die in Museumssammlung vorhanden sind, belegen den Zustand einer Kultur zur Zeit des Objekterwerbs. Vergleich von Sammlungen aus unterschiedlichen Zeiten lassen Vermutungen über Veränderungen und Beeinflussungen zu. Es ist deshalb sehr wichtig die einzelnen Museumsobjekte so gut wie möglich mit ihrer eigenen Geschichte zu dokumentieren. Dazu gehört: genaue Analyse des Objektes (Material, Technik etc), Erfassen aller Informationen zu diesem Objekt, die heute vor Ort noch bekannt sind, Vergleich mit anderen Sammlungsstücken und natürlich Angaben des Sammlers. Es gibt Sammler, die genaue Sammlungslisten im Feld führen, dazu noch ein Tagebuch schreiben und Film/Fotos machen - alles wertvolle Quellen.
Das Überseemuseum Bremen hat eine umfangreiche Samoa-Sammlung von verschiedenen Sammlern. Ein großer Teil der Objekte hat Otto Tetens zusammengetragen. Die Sammlung wurde bis jetzt leider noch nicht detailliert bearbeitet. Neben naturkundlichen Belegen wie Fischen und Insekten beinhaltet sie zahlreiche ethnografische Gegenstände. Tetens gliedert letztere auf den Sammlungslisten in folgende Kategorien: Bootsmodelle, Ehrenzeichen der Häuptlinge und Sprecher, Fächer, Fischereigeräte, Halsketten, Hausmatten, Hausmodelle, Hochzeitsmatten, Kawageräte, Keulen, Kochgeräte, Körbe und ähnliche Flechtarbeiten, Rindenstoffe, Rohstoffe, weitere Schmucksachen, Spiele, Staatsmatten, Staatschmuck, Tanzgewänder, verschiedene Gebrauchsgegenstände und Waffen.
Diese Gegenstände sind Dokumente der samoanischen Kultur um 1902. So schreibt Tetens auf der Sammlungsliste zum Beispiel zu der Kawaschale, die sie hier in der Ausstellung sehen können, dass die vielbeinige Form „heute“ (also 1902) durchaus gebräuchlich war.
Solche Angaben zu einzelnen Objekten sind auf seiner Liste aber sehr spärlich und wir wissen noch nicht viel Detailliertes zu den einzelnen Objekten. Dazu müssten andere Quellen bearbeitet werden, so zum Beispiel Teile seines Nachlasses, der sich im Überseemuseum befindet. So gibt es neben einem Tagebuch auch Notizbücher zu Pflanzen, Fische und Topografie Samoas. Das Museum besitzt zudem auch 20 Fotos. Otto Tetens hatte seine Fotos dem Museum angeboten, worauf dieses aber nur zwanzig ausgewählt hat. Ein Teil davon wird in unserer Sonderausstellung „Die Lieblingsfrau des Lirau“ im Überseemuseum noch bis zum 6. Juni gezeigt. Von besonderem Interesse war damals für die Verantwortlichen im Museum der Hausbau in anderen Kulturen. Otto Tetens hatte nicht nur zahlreiche Fotos dazu gemacht, sondern auch einzelne Hausmodelle bauen lassen. Ein solches Modell können Sie hier in der Ausstellung sehen. Die sorgfältige Auswertung der Fotos von Otto Tetens könnte sicher noch den einen oder anderen Hinweis zu den Objekten in der Sammlung geben. Es ist deshalb sehr erfreulich, dass der grosse „Rest“ der Tetens-Fotos jetzt wieder aufgetaucht ist.
Ich hoffe, dass es uns möglich ist, in fruchtbarer Zusammenarbeit, die Sammlung von Otto Tetens aufzuarbeiten und sie als gut dokumentierter Beleg für die Kulturgeschichte Samoas zu erhalten.