Historische Fotografien von Samoa auf der Bochumer Burg Haus Kemnade Die Einleitung zum Katalog Samoa 1904 Wunder-, Schatz-, oder Kunstkammern und Kuriositätenkabinette gehörten seit dem Mittelalter zum Bestandteil vieler Burgen und Schlösser. Hier wurden - anfänglich vollkommen unsystematisch - natürlich entstandene oder artifiziell gefertigte seltsame und seltene Dinge gesammelt. Hier reihten sich prähistorische Knochen, seltene Steine bzw. Edelsteine neben religiöse Reliquien, Kriegstrophäen, Exotika, wissenschaftliche Instrumente, Kunsthandwerk und Kunstwerk. Seit der Renaissance und besonders im 17. Jahrhundert setzt eine Systematisierung und wissenschaftliche Betrachtung ein, die schließlich zur Gründung heutiger Galerien und Museen führt. Auf der Burg Haus Kemnade klingt die Tradition in den hier beheimateten Privatsammlungen von Hans und Hede Grumbt sowie Kurt Ehrich nach: Aus Begeisterung für Musikinstrumente bzw. japanische Netsuke bauten diese Bochumer Bürger jenseits von wissenschaftlichen Kriterien, subjektiv geleitet und oft vom Zufall bestimmt, kulturgeschichtlich bedeutsame und äußerst lebendige Sammlungen auf. Eine lose Ausstellungsreihe des Museums nimmt dieses Prinzip auf und ermöglicht den Besuchern über bisweilen kuriose Sammlerobjekte - vorrangig aus der Region - einen unkonventionellen Blick auf Geschichte und Geschichten des Alltagslebens. Ein kleiner, lange unbeachteter Koffer löste diese Ausstellung aus. Neben anderen Dingen ihres Verwandten, des Naturwissenschaftlers Otto Tetens, gelangte der Koffer als Erbstück in den Besitz der Familie Niggemann. In ihm befanden sich historische Fotonegative, die auf Samoa entstanden waren. Die Beschäftigung mit dem Fotomaterial löste bei der Bochumer Familie eine Faszination für die Südsee-Insel aus und führte zu einer dauerhaften Verbindung mit einigen ihrer Bewohner. Aus den über achthundert überlieferten Motiven soll eine kleine Auswahl dem Museumsbesucher diese sehr persönliche Begegnung mit dem ‚Fremden‘ nachvollziehen lassen bzw. zu einer eigenen Sichtweise auf ein räumlich und zeitlich fernes Samoa anregen. Die gleichermaßen objektiven wie subjektiven Auswahlkriterien setzen sich vielschichtig zusammen; sie rühren zum einen aus dem Wissen und den Erlebnissen, die die ‚Erben‘ auf ihren durch den Fund ausgelösten Reisen nach Samao selbst erwerben konnten. Die Darstellung geographischer und kulturhistorischer Besonderheiten der Insel wurde berücksichtigt. Zum anderen wählte man nach der ästhetischen Qualität der Fotografien aus, berücksichtigte, wie der Fotograf den Ausschnitt komponierte, in dem er Landschaft und Menschen abbildete. Wie Tetens das ihm Fremde zum Bild gestaltet, spiegelt sein Welt- und Menschenbild wieder und hier liegt die eigentliche Besonderheit dieser Ausstellung: Gerade Samoa löste seit Ende des 19. Jahrhunderts eine fotografische Bilderflut aus, die gleichermaßen von Profis und Amateuren vorangetrieben wurde. Der Film von Frances Hubbard Flaherty Moana: A Romance of the Golden Age aus dem Jahre 1924 der Höhepunkt dieser visuellen Vereinnahmung‘ - vereint schon im Titel die Hauptmotive: Die Sehnsucht nach Exotik und Erotik. Das, was die eigene Gesellschaft an individueller Entfaltung vorenthält, projiziert man in eine unbekannte Welt und formt diese entsprechend um bzw. bildet sie aus diesem ihr nicht gerecht werdenden Blickwinkel ab. Die träumerische Sicht auf fremde Kulturen hat geistes- und kunstgeschichtliche Tradition, das verloren geglaubte Paradies erschuf man neu, indem man Vorstellungen von einem griechisch oder fernöstlich geprägtem Arkadien entwickelte. Anstelle von objektiven Wirklichkeitsbeschreibungen stehen ästhetische Utopien und Illusionen. Zugleich bemächtigt man sich des Fremden durch seine Darstellung, unterwirft und zwingt es in das eigene Weltbild. Realpolitisch spielen solche Methoden bei der Kolonialisierung eines Volkes und seiner Kultur eine entscheidende Rolle. Weder als Eroberer noch als Abenteurer, sondern mit konkretem Forschungsauftrag nach Samoa gelangt, begegnet Tetens dem Fremden vergleichsweise unvoreingenommen. Das Fremde birgt für den weltoffenen Menschen und Wissenschaftler die Faszination des Neuen. Seine Bilder sind mit offenem Blick entstanden und schränken den Betrachter in seiner Wahrnehmung entsprechend wenig ein. Anstatt Stereotypen zu reproduzieren, spiegelt er in den Fotografien seinen persönlich Umgang mit dieser ihm ungewohnten Welt. Die Einzigartigkeit der Landschaft, die Schönheit und Würde der Menschen und die Besonderheiten der Kultur berühren ihn. Behutsam lässt er sich auf das Fremde ein. So bezeugen seine Bilder eine nahezu selbstverständliche Nähe zwischen ihm und den Porträtierten. Erscheinen die Samoaner auf zeitgleichen Aufnahmen von den Fotografen unnatürlich positioniert, so gewinnt man bei Otto Tetens oft den Eindruck, dass sich seine Nachbarn und Mitbewohner selbst bewusst und selbstständig seiner Kamera präsentieren. Insbesondere die Doppelbildnisse, auf den sich er mit Samoanern wiedergibt, vermitteln wechselseitige Achtung und Freundschaft. Verschiedene Gruppenbilder, auf denen Einheimische und Europäer zusammen für die Kamera posieren, strahlen einen nahezu unhierarchisch familiäres Miteinander aus. Auf den heutigen Betrachter erheiternd wirkt das formale Drapieren der Dargestellten zur Gruppe nach damaligen Schönheitsidealen. Bisweilen kurios treffen die Kulturen insbesondere hinsichtlich der Kleidung und den Alltagsgegenständen aufeinander, so wenn sich die Samoaner mit den zivilisatorischen Errungenschaften der Europäer und umgekehrt die Europäer mit den Kulturgütern und den Bräuchen der Samoaner in Szene setzen. Die Ausstellung auf der Burg erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch im Sinne der Völkerkunde oder der Fotografiegeschichte, stattdessen will sie die Geschichte dieser Fotografien vorführen. Diese Aufnahmen haben für die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen einen hohen Informationswert und sind vor allem für die Samoaner wichtige historische Dokumente. Für die Ausstellungsmacher haben sie die besondere Qualität, an Hand von Bildern einen unkonventionellen und zugleich authentischen Umgang mit dem Fremden beispielhaft anschaulich machen zu können. ?? nähert sich mit den Augen an, der Prozess des fotografischen Abbildens dient ihm dazu, sich mit den Fremden vertraut zu machen und zugleich wechselseitiges Vertrauen zu erwecken. Neben vielen anderen Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Emanzipation bietet ihm der bewusste Umgang mit Bildern die Chance, ein selbst bestimmtes Weltbild zu entwickeln, in dem ein gleichberechtigtes Miteinander selbstverständlich ist. In einer Flut von technischen Bildern, die im heutigen Alltag an uns vorbei rast, hält die Ausstellung der historischen Fotografien mit dem einfachen, ruhigen Blick Otto Tetens die Zeit für einen Moment an und fordert zum schauenden Verweilen auf. Dr. Hans Günter Golinski, Direktor Museum Bochum, im April 2004 |
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